Arbeiten in Zeiten von Corona: Homeoffice, sweet Homeoffice? Millionen Menschen arbeiten derzeit von zu Hause aus. Das Konferieren und Kooperieren via Chat und Videokonferenz bietet riesige Chancen – hat aber auch Tücken. Wir zeigen, wie es richtig geht. Jetzt geht es nicht um Effizienz, sondern um Selbstfürsorge

Dr. Bernd Slaghuis Insider Ökonom, Karriere- und Business-Coach

Aktuell bedeutet Homeoffice nicht „New Work“, es ist ein Ausnahmezustand Einen guten Job macht jetzt, wer auf sich selbst und sein Umfeld achtet Das gelingt durch Grenzensetzen und Klarheit in der Kommunikation

„Steht mir das überhaupt zu?“ Diese Frage geht Ihnen womöglich durch den Kopf, wenn Sie den Titel lesen. Sie wird mir auch von vielen Klienten im Laufe eines Coachingprozesses gestellt, sobald wir an Ideen für Lösungen arbeiten, die ihnen guttun würden. Darf ich meinem Chef wirklich sagen, dass mir langweilig ist und ich mich nach mehr Abwechslung sehne? Darf ich sagen, wenn ich bestimmte Aufgaben nicht mehr erfüllen kann? Darf ich meine Kolleginnen und Kollegen auch mal abweisen, wenn sie mich um Unterstützung bitten? Darf ich ehrlich ansprechen, was ich als ungerecht oder falsch empfinde? Darf ich von Chefs und Kollegen einfordern, was ich benötige, um einen guten Job zu machen? Darf ich mich krankmelden und das Team im Stich lassen? Darf ich mich um mich kümmern – oder ist das zu egoistisch? Ich könnte diese Beispiele weiterführen und wundere mich oft selbst darüber, für welches Denken und Handeln wir glauben, eine Erlaubnis einholen zu müssen. Dieses Homeoffice ist nicht „New Work“, sondern ein Ausnahmezustand

Vielleicht haben Sie es bemerkt: Bis hierher habe ich noch kein Wort über Coronaviren und Infektionsgefahren, Pandemie, Angst vor Ansteckung, Krankheit und Tod, Kontaktverbot und Zwangsversetzung ins Homeoffice verloren. Unsere Freiheit ist aktuell massiv eingeschränkt, und diese Form von Homeoffice ist nicht trendiges „New Work“, sondern Mittel zum Zweck. Wir sind in einer Ausnahmesituation und müssen mit einem Grad von Ungewissheit und Unsicherheit umgehen lernen, den viele von uns aus Nachkriegsgenerationen nie erlebt haben.

Maximierung des Shareholder-Value, Karriere um jeden Preis, höchste Effizienz im Homeoffice mit innovativster Videokonferenztechnik, Null-Fehler-Toleranz und totale Kontrolle als Führungskraft können und dürfen im Moment keine Rolle spielen. Ich habe in den vergangenen Tagen mit Klienten telefoniert, die bisher Selbstverständliches nicht mehr auf die Reihe bekommen. Mein Blogartikel „Langeweile in Job“ ist aktuell der Meistgelesene, und ich sage voraus, dass Bore-out in den nächsten Wochen ein Thema werden wird. Doch statt über die psychischen Folgen dieser Krise und die Möglichkeiten zur Prävention zu sprechen, machen klickstarke „Hacks“ in den Medien die Runde, wie wir uns noch effizienter im Homeoffice optimieren und was strengen Regeln folgend bei der Arbeit zu Hause angeblich erlaubt oder untersagt ist. Und da sind sie wieder, die Erlaubnisse von außen

Ich halte es für wichtig, dass wir jetzt umso bewusster von innen heraus auf all das hören, was jedem von uns als Mensch individuell wichtig ist und guttut. Es geht um Achtsamkeit und das Bewusstsein für die eigenen Bedürfnisse. Aktive Selbstfürsorge statt gewohnt fremdbestimmtem Funktionieren. Nicht als selbstverliebte und andere schädigende Egoisten, sondern als Menschen. Wir müssen die Verantwortung dafür übernehmen, dass es uns und den Menschen, die uns wichtig sind, gut geht und wir gesund bleiben. Das gilt für unser privates wie unser berufliches Umfeld gleichermaßen. Selbstfürsorge heißt Grenzen setzen und Klarheit schaffen

Was brauchen Sie, damit es Ihnen in der aktuellen Situation gut geht? Ist es Ihnen vielleicht als Familie wichtig, morgens gemeinsam zu frühstücken und sich danach um die Schulaufgaben der Kinder zu kümmern? Dann besprechen Sie dies mit Ihren Chefs und Kollegen und schaffen Sie Klarheit, dass Sie in dieser Zeit nicht erreichbar sind und die Arbeitszeit am Abend nachholen.

Erkennen Sie aus der Erfahrung der ersten Tage, dass es für Ihre Arbeit zu Hause wichtig ist, Arbeit und Privatleben unter einem Dach klar zu trennen, dann definieren Sie in der Wohnung einen festen Arbeitsplatz und planen Sie Arbeits- und Pausenzeiten. Schaffen Sie nicht nur innerhalb der Familie Klarheit hierüber, sondern besprechen Sie auch mit Ihrem beruflichen Umfeld, dass und warum Ihnen dies alles besonders wichtig ist. Sie dürfen es! Haben Sie aktuell das Gefühl, mit Ihren Aufgaben im Homeoffice unter- oder überfordert zu sein, dann besprechen Sie auch dies und suchen gemeinsam nach Lösungen. Genießen Sie es, zu Hause Anzug gegen Jogginghose tauschen zu können, dann machen Sie es sich doch einfach bequem. Brauchen Sie hingegen das Gefühl, im Homeoffice zur Arbeit zu gehen, dann ziehen Sie morgens an, was Sie auch an einem Tag im Büro anziehen würden. Ärgert es Sie, dass Kollegen in dieser Situation Aufgaben hinten herum auf Sie abwälzen, oder fühlen Sie sich durch Ihre Führungskraft zu sehr kontrolliert, dann sprechen Sie es sachlich an und schaffen Sie Klarheit, was Sie sich stattdessen wünschen würden.

Klarheit schafft Sicherheit. Eine Sicherheit, die in dieser Situation hoher Unsicherheit und der Zusammenarbeit auf Distanz umso wichtiger ist, uns Halt und Kraft gibt sowie Missverständnisse vermeiden hilft. Wir alle dürfen und sollten dort Grenzen setzen, wo sie uns guttun. Erst dann, wenn wir durch offene und ehrliche Kommunikation Klarheit über unsere Werte, aktuellen Bedürfnisse, Emotionen und individuelle Situation schaffen, geben wir unserem Umfeld auch die Chance, unser Denken und Handeln zu verstehen und darauf reagieren zu können.

Nehmen Sie sich die Freiheit, die Sie jetzt brauchen Homeoffice gilt unter normalen Umständen als Inbegriff für Flexibilität und Freiheit. Viele Angestellte haben es sich vor der Krise gewünscht – nun sind wir dazu gezwungen. Doch statt uns getrieben von gewohntem Effizienzstreben und Pflichtbewusstsein starre Regeln und feste Strukturen in den eigenen vier Wänden aufzuerlegen, sollten wir uns vielmehr der vielen Freiheiten und Möglichkeiten bewusst werden, die sich jeder von uns in dieser Ausnahmesituation erlauben und mit gutem Gewissen nehmen kann. Weil es uns zusteht. Jetzt – und auch in Zukunft. Denn diese Erfahrungen werden uns und unsere Arbeitswelt auch nach der Coronakrise ein Stück gesünder machen.